Die ästhetische Wahrnehmungstendenz


Im allgemeinen Sprachgebrauch hat das Wort "ästhetisch" einen für jedes Individuum klar bestimmbaren Inhalt. Normalerweise "ist" etwas ästhetisch (oder auch nicht).

Das Ästhetische hat etwas zu tun mit den Sinnen und mit einem gewissen Genuss. Und mit "schön" selbstverständlich. Auch von Schönheit haben wir alle eine Vorstellung.

Wir wissen auch, dass Schönheit machbar ist, die Welt der 'Models' zeigt es uns in erfreulicher oder auch in bedrückender Weise. Trends, Gruppenschemata, die Frage nach "in" und "out" lässt ganze Geschäftsbranchen erzittern, und was in der Sammlung Ludwig hängt, ist zwar vielleicht kein Maßstab für Schönheit, aber doch einer für das, was in unserer Zeit als ästhetisch relevant zu gelten hat.

Das 'Ästhetische', 'das Schöne' steht mehr denn viele andere sprachlichen Begriffe in einem Spannungsfeld zwischen reinem individuellem Dafürhalten(1) und gesellschaftlichen Normierungsversuchen, so kurzfristig diese auch sein mögen.

Die zeichenkritische Theorie verwendet den Begriff 'ästhetisch' ausschließlich im Sinne von 'mit den Sinnen erfassen und sich den Reizen temporär öffnen', also eine sehr enge Reduktion auf den Wahrnehmungsprozess selbst. Der Begriff 'Ästhetik' wird in der zeichenkritischen Theorie unverändert verwendet. Das 'Schöne' wird dann begriffen als Mischungsverhältnis der Wahrnehmungstendenzen ästhetisch, tiefensymbolisch, ikonisch, individualsymbolisch, sprachsymbolisch und abstrakt. Insofern ist das 'Schöne' eine äußerst komplexe Angelegenheit und es nimmt nicht wunder, dass es so viele Meinungen dazu gibt...


Einige Gedanken zum Wahrnehmen


Als ästhetische Wahrnehmung von Wirklichkeit bezeichne ich ja den Tatbestand, dass der Mensch auf spezifische Außenimpulse zur Realisierung seiner lebendigen Möglichkeiten angewiesen ist, und für deren Rezeption und Verarbeitung mit Sinnesorganen ausgestattet ist.

Die Sinnesorgane selbst sind dabei bereits "Rezeptoren", und als solche sind sie in der Lage, Informationen von außen mit ihrer spezifischen Eigenaktivität zu "beantworten". D.h. sie wandeln die physikalischen/chemischen Außenimpulse um in nervale Impulse. Durch das konvergierende und divergierende Prinzip der nervalen Reizleitung werden dieses Antworten dann einmal "gestreut" aber auch "konzentriert" weitergeleitet an die nachgeschalteten neuronalen Verbände. Die nachgeschalteten neuronalen Verbände sind ebenfalls über die laterale Hemmung (Interferenz) in der Lage, der Reizweiterleitung Grenzen aufzuerlegen, die zu einer Selektion des Wahrnehmbaren bzw. Wahrgenommenen führen. Somit sind die spezifische Reizempfindlichkeit, die Reizschwelle(n), Hemmung und das divergierende und konvergierende Prinzip die primären (ästhetischen) Filter für die weiteren Wahrnehmungsprozesse. Was letztlich im Bewusstsein ankommt ist natürlich weit weniger als das, was an Reizen vorhanden ist, bzw. überhaupt von den Sinnesorganen aufgenommen wird. Was wir dann tatsächlich erleben hat möglicherweise gar nicht mit dem zu tun, was es physikalisch 'ist': "Farbe" z.B. ist eine vom Gehirn selbst produzierte Vorstellung, die reale Welt hat überhaupt keine 'Farbe', es gibt dort nur unterschiedliche Energiezustände in Form elektromagnetischer Wellen.  

Man muss auch davon ausgehen, dass es natürliche Erscheinungsformen gibt, für die der Mensch keine Sinnsorgane besitzt, und die deswegen nur mit den technisch/physikalische Erweiterungen der menschlichen Sinnesorgane in Form von "Geräten" erkannt werden können. Diese Aufbereitung für die menschlichen Sinnesorgane verändert selbstverständlich die Qualität dessen, was da einen Reiz auslöst möglicherweise radikal. Wenn wir "Radio" hören, dann sind dies bereits mehrfach umgewandelte Signale, und es ist für den Menschen nicht möglich, ein Sinnesorgan z.B. für Radioaktivität zu haben, es sei denn dieses Organ sei aus Blei. Jedes andere Material würde unweigerlich durch die Strahlung zerstört. 

Zentrale Aufgabe der ästhetischen Wahrnehmung ist es, dem Menschen alle für sein Leben/Überleben relevanten Informationen der  Umwelt zukommen zu lassen, aber eben auch nur die. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hat dahin geführt, dass die Fähigkeit dieser Sinnesorgane durch die "Technik", insbesondere durch "Frühwarnsysteme" aller Art, die die Versorgung des Menschen mit relevanten Informationen sicher stellen sollen, wesentlich verbessert wurde. Aber dies hat auch den Nachteil, dass diese technisch erzeugten Informationen, nicht mehr gefiltert werden, es kommt deswegen zu Informationsüberflutung, zu sinnloser Information und alle mit dem Missbrauch von Information zusammenhängenden Erscheinungsformen. 


1: Ursprünglich, so steht im Grimm, bezeichnete des Wort 'schön' "das, was in die Augen fällt, Glanz, Helligkeit, Klarheit."


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