Die gestische Wahrnehmungstendenz


Das Handeln (im Sinne von 'auf einen Außenimpuls antworten') ist primär fest codiert, genetisch vorgegeben. Dies trifft bis zu einem bestimmten Grad an Komplexität auf alle Arten zu. Als neue Stufe der Entwicklung tritt dann die Möglichkeit auf, dieses Handeln nicht mehr 'automatisch" ablaufen lassen zu müssen, sondern in bestimmtem Maße durch Erfahrungen lernen zu können. Dies ist ein ganz entscheidender Vorteil im Sinne der Evolution.

Die eintreffenden Impulse lösen nicht mehr nur ein vorherbestimmtes Verhalten zur Überlebenssicherung aus, sondern die Möglichkeit, das Überleben zu sichern, wird dadurch entscheidend verbessert, dass eine Anpassung an die Umwelt stattfindet.  Durch Speichern von Erfahrungen wird eine Neubestimmung von Verhaltensmustern möglich. Es beginnt hier etwas, das man mit LERNEN bezeichnen kann.

Beim Menschen ist diese Fähigkeit soweit entwickelt, dass das genetisch vorgegebene Verhalten auf ein absolutes Minimum reduziert ist. Nur noch wenige "Reflexe" sind übriggeblieben, und auch die können 'kontrolliert' werden. (Hunger, Sexualität, Selbstschutz, Regeneration etc...)

Jedes genetisch vorgegebene Verhalten braucht keine "gestische Wahrnehmung von Wirklichkeit". "Bewusstsein" in dem eigentlichen Sinne ist nicht notwendig. Die Aktivität wird durch den betreffenden Außenimpuls ausgelöst, ohne "eigenes Zutun".

Gestische Wahrnehmung von Wirklichkeit wird dann notwendig, wenn es darum geht, die eigene Handlungsweise den Umweltbedingungen entsprechend zu verändern.

Da allerdings die Umweltbedingungen sich im Laufe eines Lebens mehr oder weniger deutlich verändern können, müsste ein absolutes "offenes System" auch jeden neuen Impuls neu bewerten können. Dies würde im Zweifelsfall zur Handlungsunfähigkeit führen, da jedes Mal neue Strategien und Herangehensweisen überlegt und erlernt werden müssten.

Der Trick bei der menschlichen Entwicklung ist eine partielle "postnatale Codierung", die im Elternhaus angelegt wird. Hier wird durch das System der Primärerfahrungen in deren "sozio-parentalem Kommentierungskontext" ein Verhaltenssystem entwickelt, welches für alle wesentlichen Bereiche des Lebens und Überlebens Verhaltensmuster anbietet. (Dies ist dann die tiefensymbolische Prägung.)

Werden nun komplexe Außenimpulsstrukturen wiedererkannt, kann das Kind diese handelnd beantworten. Die Sicherheit dieser Antworten wird im Laufe der ersten 6 Lebensjahre gefestigt, bis der Zusammenhang mit dem familiären Kontext langsam gelockert werden kann, und das Kind sich weiteren Erfahrungszusammenhängen für sein Lernen öffnen kann. Bis zum Alter von 6 Jahren erlebt man als Mensch auch die Aufnahme von Erfahrungen von anderen nicht als deren Erfahrungen, sondern als die eigenen. Dies ist logisch, da die sozioparentale Kommentierung ja auch "am eigenen Leibe" erfahren wird. Die sozioparentale Kommentierung ist deswegen in der Lage beim Menschen tatsächlich ein eigenes Erfahrungsgebäude zu etablieren, welches auch sehr intensiv mit der eigenen Identität verknüpft wird. Dies geht soweit, dass immer noch sehr verbreitet die Meinung besteht, dass es "vererbtes (soziales) Verhalten" gäbe.

Die eigene direkte Erfahrung ist somit das Zentrum des Lernens.

Dies ist mit 6 Jahren tendenziell abgeschlossen und kann dann nur noch partiell modifiziert werden durch die weiteren eigenen Erfahrungen und die indirekten Erfahrungen der späteren Entwicklungsschritte. 

Menschlich gehandelt wird immer als Resultat von Denken, das Denken hat das Handeln bestimmt. Insofern kann man auch hier vielleicht von Codierung sprechen, und wir können so verschiedene Prinzipien gestischer Codierung unterscheiden: 

die genetische Codierung, als Verhaltensnorm für den allerernstesten "Notfall".

die sozioparentale Codierung, als "verinnerlichte" Verhaltensnorm im gesellschaftlichen Kontext (Erziehung)

die "Selbstcodierung", als die Möglichkeit durch eigene Überlegungen das eigene Verhalten bewusst zu bestimmen. 

Das Gestische ist insofern "spontan", als es immer das Produkt, das Resultat von Erkenntnisstufen ist, die vorher stattgefunden haben. Im Augenblick des Handelns selbst haben diese Erkenntnisstufen keine direkte Aktualität. Sicherlich gibt es dabei Ausnahmen, aber ich denke Begriffe wie "Entschluss", eine "Entscheidung (fällen)", "eine Idee umsetzen" sind Begriffe, die deutlich machen, dass das Denken vorher stattgefunden hat, und jetzt das darauf bezogene Handeln beginnt.

Das Gestische ist die jeweilige Codierung von Handlungsabläufen.

Diese Codierungen (die sicherlich durch die grundsätzliche "Freiheit" auch wieder begrenzt sind, um eben Handlungsmotive immer wieder neu einstellen zu können) sind dafür verantwortlich, dass überhaupt eine Handlungsfähigkeit sich einstellt, die eben auch "spontan" denkbar ist. 

Gestische Wahrnehmung von Wirklichkeit ist deswegen immer auch bewusst wahrgenommenes Handeln.


zurück