Die bildnerischen Variablen


Bei den bildnerischen Variablen handelt es sich um einen wesentlichen Teil dessen, was in der zweiten Lektion unter dem Thema "Bild als Gegenstand" dargestellt wurde. Es handelt sich dabei um das, was "tatsächlich auf dem Bild drauf ist". Und das sind insbesondere bestimmte, geformte Stoffe, z.B. Papier und Tusche oder Öl und Leinwand. 

Zu einem Bild wird das Ganze dadurch, dass diese Materialen sehr genau dimensioniert und positioniert worden sind - "das Richtige am richtigen Ort". Das wird in der Zeichenkritischen Theorie unter "Formulierung" verstanden. "Das Richtige am richtigen Ort" heißt, dass es dafür bestimmte Kategorien oder Regeln geben muss, wann etwas "richtig" und am "richtigen Ort" ist. Um das zu gewährleisten muss allerdings erst eine Bestandsaufnahme dessen gemacht werden, was materiell tatsächlich vorhanden ist. 

Ein wichtiges Instrument, um dieser Frage nachgehen zu können, sind die "bildnerischen Variablen". Wie man im nächsten Kapitel sehen wird, wird z.B. nach der "Spur" gefragt, oder nach dem Trägermaterial, oder z.B. nach Richtungen und Kontrasten. All das lässt sich materiell beschreiben, sowohl von der individuellen Erscheinungsform, wie auch von seiner Einbindung ins Ganze her. Nun stellen die bildnerischen Variablen das gesamte Repertoire dessen dar, was auf einem Bild im Sinne seiner Materialität "drauf sein" kann. Und alle diese Elemente sind auch in irgendeiner Weise auf jedem Bild in bestimmter Weise ausgeprägt. 

Hier finden wir die Verbindung zu dem, was unter dem "Abstrakten" bisher ausgeführt wurde: man kann sagen, die bildnerischen Variablen sind die Konstanten eines Bildes, die dieses erst zu einem Bild machen. Sie sind die konstituierenden Elemente für ein Bild. Keines dieser Elemente darf fehlen. Darüber hinaus macht die Zusammensetzung der Variablen die jeweilige Sprachform aus. Jede Sprachform hat ihren ganz spezifischen "Variablen-set", die gesprochene Sprache ebenso wie z.B. der Tanz oder eben das Bild. 

Beim Bild haben wir acht Obergruppen von Variablen: Dimension, Situation, Spur, Form, Dichte, Proportion, Kontrast und Lage. Jede dieser Variablen hat eine Reihe von Subvariablen", die dann schon für ein bestimmtes Kunstwerk konstituierend sind, und wie z.B. die Variable "Form" u.a. die Subvariablen "Punkt", "Linie", "Fläche" beinhaltet, die bei einem konkreten Bild in spezifischer Weise zum Ausdruck kommen können. 

Fehlt noch die Erläuterung, wieso diese Elemente "Variable" heißen. Wenn ich die bildnerischen Variablen auf einem ganz bestimmten Bild betrachte, ist gar nichts mehr "variabel", im Gegenteil, alles ist an seinem richtigen Ort, alles ist entschieden und festgefügt. Wie beim Abstrakten ist es auch hier: Das Abstrakte tritt erst in der Konkretion in Erscheinung, obwohl es die konstituierende Grundstruktur einer jeden Sache ist. Die "Variablen" sind solange variabel, bis sie in der Konkretion eines Bildes festgelegt wurden, ihre entschiedene Formulierung erhalten haben. Deswegen sind die bildnerischen Variablen dem abstrakten Zeichenaspekt zuzuordnen. 

Und das Interessante und Aufregende an diesem Sachverhalt ist, dass die bildnerischen Variablen auf Grund dieser Tatsache Analogien sind zu den existentiellen Konstanten, die wiederum Grundlage der abstrakten Wahrnehmungstendenz sind. Diese Zusammenhänge werden gesondert im Teil "abstrakt" der Hauptseite zur Zeichenkritischen Theorie behandelt. Die Variablen sind in ihrer Konkretion nicht nur Figuren des abstrakten Zeichenaspektes, sie haben auch "Tentakel" zu den anderen Zeichenaspekten. Diese sind ganz wichtig, um dann später beim "Lesen eines Bildes" die richtigen Schlüsse (rationaler ebenso wie intuitiv/emotionaler Art) ziehen zu können. 

Ein Beispiel; Wir haben erfahren, dass die ästhetische Wahrnehmungstendenz von dem "Reizvollen", dem Kontrastreichtum, dem "Augenschmaus" lebt. Dabei spielt die Gehirnphysiologie eine entscheidende Rolle: Nicht zu viel und nicht zu wenig an Reizen darf es sein, es muss "interessant" bleiben, ohne bereits den Betrachter in seinen Bann zu ziehen. Vom Ästhetischen kann man sich leicht wieder lösen, man ist immer wieder entzückt über die Vielfalt, die Mannigfaltigkeit der Einfälle, die immerfort erneut reizvollen Zusammenstellungen. All dies finden wir in der Variablen "Kontrast". Hier ist das Feld des Ästhetischen, natürlich noch raffiniert gewürzt durch die "Lage". Der Impressionismus hat wahre Orgien des Ästhetischen gefeiert. 

Werden die Kontraste nun schwer, intensiv, dräuend, laut, schrill etc, dann wandert das Spektrum der Wirkungsweisen hin zum Tiefensymbolischen, es nimmt einen gefangen, es "fasziniert", es "zieht in seinen Bann". Den Künstler Pierre Soulage kennen wir hier, auch Antoni Tapies (im Gegensatz wohl zu Cy Twombly) und Emil Schuhmacher. Das Tiefensymbolische wird unterstützt durch Dimension, auch Situation. Dazu kann noch Dichte kommen (Knoten), auch Form über das Ikonische. Natürlich werden tiefensymbolische Regungen nachhaltig ausgelöst durch motivliche Elemente, Dies ist hier aber nicht die Frage. 

Die Form unterstützt über "Umriss" das Ikonische, "Spur" selbstverständlich das Gestische, die symbolischen Tendenzen Individualsymbolik und Sprachsymbolik werden durch die bildnerischen Variablen eher nicht tangiert, natürlich führt "Stil" zur Individualsymbolik, das gleiche gilt natürlich auch für epochale Stile - allerdings eben immer in einem bestimmten Mischungsverhältnis nicht nur der bildnerischen Variablen, sondern auch der Aussageintention insgesamt.

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