Das Abstrakte, die Abstraktion und das Ungegenständliche in der Zeichenkritischen Theorie


Giorgio Morandi (1890–1964), Natura Morta, 1960, Öl auf Leinwand, 30,6 × 35,6 cm; Freiburg, Sammlung F. A. Morat


VorbemerkungVorbemerkung


Was ist denn nun das Interessante an einem Bild? Ist es die Tatsache, dass wir hier zum Beispiel ein Stillleben zu erkennen glauben? Ist es die Wirkung der Farben? ist es die eigenartige Ruhe, die dieses Bild ausstrahlt?

Es ist durchaus nicht selbstverständlich, dass unter die wichtigsten Kulturmerkmale einer Gesellschaft ausgerechnet Objekte gehören, die nichts anderes sind als eine wohlplatzierte Menge unterschiedlicher Pigmente auf einem meist nicht mehr sichtbaren Trägermaterial. 

Ein Bild, also eine Konkretion, die unterschiedlichste Zeichenaspekte in sich birgt, kann uns so einnehmen, so fesseln, dass wir bereit sind, große Summen Geld für den Besitz eines solchen Werkes auszugeben, oder dass wir zumindest bereit sind, viel Zeit mit dem Genuss solcher Gegenstände zu verbringen. 

Jede Kultur ist stolz auf die Werke ihrer Meister, sie werden bewundert, in Museen ausgestellt, Bücher werden über sie geschrieben, alles wegen dieser eigenartigen Qualität, die diese Werke ausstrahlen - dem "Schönen", dem Faszinierenden, dem Geheimnisvollen.

Aber wir wissen auch, dass diese Werke ganz unterschiedlich aufgefasst, interpretiert werden können. Die Kunstgeschichte ist voll von Beispielen, wie Kunstwerke immer wieder neue Wertungen erfahren haben. 

Wieso sind sie dann so bedeutend? Was ist an ihnen dran, dass Generationen über Generationen immer wieder sich die hitzigsten Debatten darüber liefern, was denn nun eigentlich daran "Kunst" sei?

Neben den selbstverständlich historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, denen das Kunstwerk ausgesetzt ist, Bedingungen, die die Rezeption eines Kunstwerkes außerordentlich beeinflussen können, ja, es teilweise in gänzlich anderem Lichte erscheinen lassen, scheint ein grundsätzliches Verständnis darüber gegeben zu sein, dass so ein Gegenstand zumindest einer ist, der aus der Menge der Gebrauchsgegenstände herausragt.  

Dieser Gegenstand "hat etwas", was so nicht ganz einfach zu erklären scheint. 


Das Phänomen, das ich versucht habe von verschiedenen Aspekten her anzureißen, hängt mit dem zusammen, was in der Zeichenkritischen Theorie unter dem ABSTRAKTEN verstanden werden soll. 

Der Begriff des Abstrakten hat sich im Laufe meiner Beschäftigung mit der zeichenkritischen Theorie als eines der zentralen Elemente herausgestellt. Ich musste diesen Begriff völlig neu definieren und ihn von den Begriffen unterscheiden, die häufig insbesondere bei der bildenden Kunst damit gleichgesetzt werden: ungegenständlich, "konkret", non-figurativ, Abstraktion...

Das "Abstrakte" wird im allgemeinen Sprachgebrauch bestimmt als etwas, was nicht der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sei, was "jenseits" der Welt der Erscheinungen (Platon), das Wesen der Dinge repräsentiere. So gäbe es auch sog. "abstrakte Begriffe" wie Freiheit, Natur, Recht etc. Abstraktes Denken sei deshalb auch dem gegenständlichen Denken überlegen. 

Eine zentrale menschliche Fähigkeit im Bereich des Denkens operiert mit 'Begriffen': "....eine der ältesten und mehrdeutigsten Bezeichnungen der Philosophie, die gemeinhin jene allgemeine Vorstellung von Gegenständen bzw. Phänomenen meint, die durch die Abstraktion vom Konkreten, Besonderen und Individuellen gewonnen werden kann. Er zielt auf die einfachste Art des Denkens ab, um diese vom komplexeren Urteil oder Schluss ... abzugrenzen. Diese wiederum bauen auf einem System von Begriffen auf. Einen Begriff von etwas zu haben, meint die Bedeutung oder das Wesen des entsprechenden Phänomens zu kennen und in der Lage zu sein, es von anderen zu unterscheiden. ..."

Das Deutsche ist eine eigentümliche Sprache. Etwas, das dem sinnlichen Zugang so verschlossen zu sein scheint, wird mit einem Wort belegt, was nur ganz direkt und ganz sinnlich zu verstehen ist. Begriff und Begreifen, also "anfassen" scheinen doch auf irgend eine Weise zusammenzugehören. 

So, wie ich in der Zeichenkritischen Theorie das Abstrakte verstehe, ist dieses auch etwas ganz ursprünglich Sinnliches. Dies möchte ich hier in diesem Kapitel vorstellen. 


Ich möchte dabei auch auf einige Vorstellungen eingehen, die mit Begriffen der sog. "abstrakten Kunst" unmittelbar verbunden sind. Ich möchte diese aus der Sicht der Zeichenkritischen Theorie darstellen und möglicherweise in einem anderen Lichte erscheinen lassen. Um nur einige dieser Begriffe zu nennen: Abstrakter Expressionismus; Action Painting; post-painterly Abstraktion; absolute Malerei, Informell; Konkrete Kunst; Konstruktivismus; Minimal-Art; Op Art; Suprematismus; Tachismus; etc..;

Die zeichenkritische Theorie macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Begriffen Abstraktion, abstrakt und ungegenständlich. Ich werde versuchen, diese Begriffe teilweise neu zu definieren und sie aus dem System der Zeichenkritischen Theorie heraus darzustellen.


Abstraktion und Ikonizität


Geht man aus vom Begriff 'abstrahieren', dann heißt dies "etwas abziehen". Es gibt also etwas Ganzes (oder vielleicht auch etwas Nicht-Ganzes), von dem etwas abgezogen werden soll. Ziehen wir von hundert zehn ab, bleiben 90 übrig. Bei der Abstraktion im Bildnerischen ist das nicht so. Ziehen wir z.B. von einem Gesicht Pickel und andere Hautunreinheiten ab, so ist das Ergebnis nicht weniger, sondern zumindest anders, eher ist es sogar mehr. Es ist vom Zufälligen befreit.

Der Begriff der Abstraktion geht also davon aus, dass es das "Eigentliche" und das "Zufällige" gibt. Das Eigentliche ist das, was trotz aller Zufälligkeiten, momentaner Modifikationen, und anderer möglicher Einflüsse, das Unverwechselbare, den ganz ureigensten Kern einer Sache oder einer Person ausmacht. Das Phänomen der menschlichen Fähigkeit zu abstrahieren haben viele Forscher untersucht. zu Literatur

Immer geht es dabei um die Identität, also das, was trotz aller momentaner Wirren unveränderlich erscheint, bzw. ist. Nach außen kann die Identität  immer wieder neue Erscheinungsformen bekommen, nach innen bleibt sie sich treu. Wer seine (innere) Identität verliert ist nur noch ein Spiel im Wind. 


Was hat dies nun alles mit dem Thema der Abstraktion zu tun?

Ziel der Abstraktion ist es, das Wesentliche der Gestalt "herauszuschälen" eben durch "Weglassen".

 

Piet Mondrian (1872–1944), Der graue Baum, 1912, 

Öl auf Leinwand, 78,5 x 107,5 cm;

Weggelassen werden insbesondere die situativen Modifikationen der Erscheinungsweise, und solche Veränderungen der Gestalt, die im Zuge der Regenerationsfähigkeit eines Wesens zumindest äußerlich wieder verschwinden können. 

Durch Abstraktion erziele ich also tendenziell ein "mehr", zumindest, was die Wesensmerkmale einer Sache anbelangt, da diese dann nicht mehr überlagert sind durch "Zufälligkeiten". Dabei kann sich die Abstraktion auch deutlich von dem "normalen" Erscheinungsbild lösen, wenn dahinter eben ein Allgemeines sichtbar wird.

Dieses Mehr drückt sich in der konkreten Abbildung auch darin aus, dass Elemente, die vielleicht gar nicht "so" da sind, durch die Umsetzung in ein Medium - entsprechend den abstrakten Eigenschaften dieses Mediums - erst sichtbar werden. Die Linie ist dafür ein gutes Beispiel: Eine Identität erkennen wir in der Realität daran, dass sie sich vom Hintergrund abhebt. Die Silhouette ist aber beileibe kein grundsätzliches Merkmal für die Identifizierung eines Objekts. Wenn wir einen Löffel in unterschiedlicher Weise halten, dann erscheint seine Silhouette immer in neuer Form. Dennoch erkennen wir den "Löffel" als Löffel. Die Zeichnung benutzt zur Charakterisierung die Linie, der dann alle Informationen aufgebürdet werden, die zur Charakterisierung des Löffels notwendig sind.

Schauen wir auf die Rezeptionsbereitschaft des Betrachters. Es gibt grundsätzlich zwei Weisen der Betrachtung dieses Wesentlichen: Zum einen ist das Wesentliche das, was der Betrachter einer Sache sowieso selbstverständlich dieser unterstellt, er wird dieses also gar nicht  besonders wahrnehmen. Es ist sozusagen "langweilig", Ihm fehlt sozusagen die "Butter an die Fische". Abstraktion ist für einen solchen Betrachter dann eher eine Quelle, um die eigene ikonisierende Phantasie daran auszutoben. Das Karge, Reduzierte wird mit dem eigenen Formenreichtum wieder aufgemöbelt, da es sonst zu langweilig ist. 

Die zweite Betrachtungsweise, - und auf diese zielen letztlich die Bemühungen der Abstraktion, - ist geprägt von einem begrifflichen Interesse, der Wald ist hier wichtiger als die Bäume. Nicht das Situative, Anekdotische steht im Zentrum des Interesses, sondern die Frage nach dem Verallgemeinernden, nach dem, "was das Ding im innersten zusammenhält". Insofern unterstützt die Abstraktion das Erkenntnisinteresse, wohingegen die Ikonisierung das Ausschmückende ist, das, was immer noch ein Elementchen dazufügt, um die Schilderung des vergänglichen Augenblicks für die nachfolgende Zeit zu konservieren. Je höher die Ikonisierung, desto mehr lebt das Ergebnis vom Augenblick und seiner vergänglichen Erscheinungsform, je höher die Abstraktion um so mehr tendiert die Darstellung zur "nackten Wahrheit", zum Elementaren. 

Um nicht im Wirrwarr der zufälligen Erscheinungsformen die Orientierung zu verlieren braucht man den Blick auf das Elementare. Man braucht diesen Blick dringend, um die Sache überhaupt zu identifizieren. Aber das reicht auch schon, dann kann man sich dem Erheiternden des Modifizierenden anheim geben - es ist das, was bewusst wird, indes das Wesentliche, da ja sowieso bekannt - kaum wahrgenommen wird. Die Modifikationen der Erscheinungsweise werden also in erster Linie lustvoll erlebt.

Situationskomik, der Gag, auch die Schadenfreude gehören in das Feld des Spaßes am Momentanen. Im Bild gibt es die Karikatur, den Witz, viel vom Indexalischen kommt dazu, man  versucht den Gegenstand in eine bestimmten Licht, einer bestimmten Lage darzustellen, das Urlaubsfoto zeigt ein einmaliges Zusammentreffen von Elementen ("Oma vor dem Brunnen in Rom"), der Schnappschuss hält eine nie wieder mögliche Konstellation fest. Damit man an so einem Bild dennoch das Interesse nicht verliert, muss es eine gewissen Grad von dem aufweisen, was man das Typische nennen könnte, und schon sind wir wieder bei dem Prinzip der Abstraktion, allerdings diesmal unter dem Gesichtspunkt einer Grundkonstellation von Elementen, wobei die Elemente selbst allesamt sehr weitgehend ikonisiert sein können. 

Wenn man das Ikonische unter dem Aspekt des Wiedererkennens betrachtet, dann sind wir auch hier eher bei der Abstraktion, denn wiedererkennen kann man nicht die Dinge in ihrer zufälligen Erscheinungsform, sonder man erkennt die Gestalt einer Sache wieder. "Kennen" basiert demnach eher auf dem Prinzip der Abstraktion. Wie sind diese Gedanken zu verbinden:

Von der Gehirnphysiologie her scheint es so zu sein, dass die situative Kapazität der Verarbeitungsfähigkeit von Außenimpulsen nicht ausreicht, um sämtliche Außenimpulse in ihrer Qualität zu erfassen. Es ist deswegen "ökonomisch" sinnvoll, die Kapazitäten der Aufnahmefähigkeit auf die Dinge zu lenken, die situativ von Bedeutung sein können. Etwas wiederzuerkennen kann heißen, dass man wesentlich weniger Merkmale erfassen muss, um entscheiden zu können, dass man diesem Element nicht allzu viel Aufmerksamkeit zuwenden muss, da man es kennt und seine Funktion im situativen Zusammenhang erfassen kann. Umso mehr freie Kapazität kann man dann dem widmen, was unbekannt, was nur situativ erfassbar ist und von dem man letztlich nicht weiß, inwieweit es "gefährlich" sein kann. Da ist es dann sinnvoll, alle Möglichkeiten, die man hat, diesen modifizierenden Elementen zu widmen. Wenn man dann auch die wieder "kennt", dann wird entweder das Leben langweilig, oder man muss sich in neue "unbekannte Abenteuer" stürzen....


Was hat man dann davon, wenn man sich ein Bild ins Zimmer hängt, auf dem ein stark abstrahierter "Stier" zu sehen ist. z.B. von Picasso?

Gehen wir erst einmal davon aus, dass ein Bild ein Medium ist, welches man eher längere Zeit vor Augen hat. Nicht wie das Fernsehbild, welches, kaum gesehen, schon verschwunden ist, geschweige denn vom allgemein üblichen Gezappe. Bei einer Rezeptionsweise, die auf einen längeren Zeitraum hin angelegt ist, ist das Anekdotische eher ermüdend, wie der Witz, der zweimal erzählt bereits viel von seiner Witzigkeit eingebüsst hat. Die Abstraktion, die mehr auf dem jeweils Allgemeingültigen basiert, hat da mehr Bestand. 

Dabei kann man eine gegenstandsbezogene Abstraktion unterscheiden von einer situationsbezogenen Abstraktion. Die gegenstandsbezogene Abstraktion abstrahiert dann selbstverständlich den Gegenstand, wie im obigen Bildbeispiel von Mondrian das Allgemeingültige eines Baumes dargestellt werden soll. Die situationsbezogene Abstraktion versucht das Allgemeingültige einer Situation herauszuarbeiten und kann dabei wieder einen hohen Ikonizitätsgrad bei der Darstellung der Gegenstände und Personen aufweisen. Z.B. ist das Historienbild in der Regel so gestrickt: An Hand eines Einzelbeispiels in seiner ganzen momentanen Heldenhaftigkeit wird das Allgemeine oder Grundsätzliche der Situation dargestellt, z.B. Heldentum als allgemeiner Wert. Bei "Der ermordete Marat" liegt die situationsbezogene Abstraktion im Phänomen des Verrats, der für geschichtliche Entwicklung Frankreichs wiederum eine allgemeine Bedeutung hat. Deutliche wird die Abstraktion deswegen nicht bei den Gegenständen, die hier ja einen äußerst hohen Ikonizitätsgrad aufweisen, sondern in dem Gefüge der Situation, in ihrer Kargheit, in ihrer auf das Minimum reduzierten Darstellung. Wir werden auch weiter unten sehen, wie das Abstrakte hier noch eine Rolle spielt. 

Jacques Louis David (1748–1825), Der ermordete Marat, 1793,Öl auf Leinwand, 165 × 128 cm

Wir können also bei der Abstraktion folgende grundsätzliche Eigenschaften erfassen: 

1. Sie ist eine Kategorie der Ikonizität, da sie immer auf die Identität verweist, auf das Wesentliche einer existierenden Konkretion. So eine Konkretion kann ein Gegenstand sein, eine Person oder auch eine Situation. Es geht um die Wiedererkennbarkeit einer Identität. 

2. man muss also in der Lage sein das "Eigentliche" von dem zu unterscheiden, was nicht wesensmäßig zur Identität einer Sache bzw. einer Person gehört.

3. Wir unterscheiden zwischen einer gegenstandsbezogenen Abstraktion und einer situationsbezogenen Abstraktion. 


Wir müssen noch einen kurzen Blicke werfen auf den Produzenten und den Rezipienten. Der Produzent ist selbstverständlich bei dem, was er als das Wesentliche einer Sache ansieht, wieder auf seine Wahrnehmungsintention bezogen. Was ein Künstler als Wesentlich ansieht, kann deswegen seinen Ausdruck auf allen Darstellungstendenzen bekommen. Wir haben also bei der Abstraktion grundsätzlich eine Darstellungsweise vor uns, die vom Ikonischen zwar dominiert ist, modifizierende Tendenzen können aber alle anderen sein, die eben dem Künstler als wesentlich erscheinen. Das gleiche gilt für den Rezipienten, es ist ja nicht gesagt, dass das, was der Autor als wesentlich ansieht auch für den Betrachter das Wesentliche ist. 

Somit können Abstraktionen auch unangemessen sein, sie können den Blick doch auf Zufälligkeiten lenken, die eben der Autor der Arbeit vom tatsächlich Wesentlichen nicht unterscheiden kann. kurz, man kann aus Dummheit auch Wesentliches weglassen. Das kann dann Ausdruck von Naivität bzw. Unwissenheit sein, kann auch Ausdruck dafür sein, dass man von der tiefensymbolischen Wahrnehmung her bestimmte Merkmale überbetont, andere dafür gar nicht zur Kenntnis nimmt (einen Menschen als Sexualobjekt wahrzunehmen - oder darzustellen - statt als Mensch...). Es kann einem der Blick für (indexalische) Zusammenhänge nicht gegeben sein (das bekannte Fettnäpfchen), oder man kann (sprachsymbolisch) unhöflich sein, usw.

Wenn man all diese Möglichkeiten sich vor Augen führt, welchen Unsinn man im Bereich des Abstrahierens, also des Weglassens bestimmter Elemente, machen kann, dann wird es von daher wieder plausibel, wenn eine "gelungene" Abstraktion (eben z.B. ein 'gutes' Bild) der eigenen Wahrnehmung zur Seite steht.

mehr zum Thema, dazu eine gewisse Systematik