Die Wahrnehmungstendenzen

 

Die Zeichenkritische Theorie geht davon aus, dass es Ebenen der Wahrnehmung von Wirklichkeit ("WvW") als "Wahrnehmungstendenzen" gibt, die im Zusammenhang stehen mit der Art und Weise, wie das Gehirn mit Informationen umgeht.

Ich als Künstler und Kunsttheoretiker, der ich versuche, mit der Zeichenkritischen Theorie ein Modell vorzulegen und zu beschreiben (und dies ist auch eine Kunstform), mit dem die Produktion und die Rezeption von Kunstwerken verstanden werden kann, bin selbstverständlich nur Dilletant, was die tieferen Einblicke in die Wissenschaftsfelder der Gehirnphysiologie und der Psychologie anbelangt. Dennoch meine ich, eine Darstellungsform gefunden zu haben, die für meine Zielsetzung anwendbar ist.

Die Vorstellung, die meiner Modellentwicklung zugrunde liegt ist erst einmal ein Paradoxon: Ich gehe von acht Wahrnehmungsebenen aus, die als eine logische Folge aufeinander aufbauen. Gleichzeitig sind diese Wahrnehmungsebenen im Laufe einer menschlichen Entwicklung jedoch alle immer gleichzeitig vorhanden, wenn auch mit einer, der persönlichen Entwicklung folgenden Verdichtung und anwachsender Komplexität. Die Ebenen der Wahrnehmung, die hier allgemein beschrieben werden, bilden in jedem Individuum ein bestimmtes, der individuellen Entwicklung eines Menschen entsprechendes Mischungsverhältnis.
Jeder Mensch prägt im Laufe seines Lebens (und in unterschiedlicher Weise je nach Lebensalter und/oder -situation) ganz bestimmte Wahrnehmungsebenen in besonderer Weise aus, die sich dann als "Wahrnehmungstendenz" (WT) und in der Mischung als "Wahrnehmungsweise" (W-weise) konkret als O' zu "Spezialisten für Wahrnehmungsebenen" entwickeln, eben dann, wenn sie die Wirklichkeit mit einer sehr dominanten Wahrnehmungstendenz erleben.

 

Die Ebenen der Wahrnehmung:

1. Die ästhetische Wahrnehmungsebene

Als ästhetische Wahrnehmungsebene bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch auf Außenimpulse angewiesen ist, und für deren Rezeption und Verarbeitung mit Sinnesorganen ausgestattet ist. Als WT ist es die Ebene des sinnlichen Erlebens. Dabei wird die ästhetische Ebene der WvW bewusst erfahren, indem der Mensch sich den physiologischen Möglichkeiten des (spezifisch menschlichen) sinnlichen Erlebens von Außenimpulsen öffnet. Im Zentrum steht dabei die Öffnung auf das "Jetzt" des Erlebens.

Spezialist ist hier der "Gourmet", der "Ästhet".

2. Die gestische Wahrnehmungsebene

Als gestische Ebene der Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch in der Lage ist, auf Außenimpulse handelnd zu antworten. Sinnesorgane wären "sinnlos", wenn nicht mit der Fähigkeit zur Reizaufnahme auch eine Antwortmöglichkeit verbunden wäre. Die Änderung der physiologischen internen Zustände durch den Außenimpuls und deren Umsetzung (oder Nicht-Umsetzung) nach außen in einer Handlung tangiert den Bereich der Psychologie.

Als Wahrnehmungstendenz wird die gestische Ebene der WvW bewusst erfahren, indem die ureigene körperlich-seelische Stellungnahme zu Außenimpulsen auf Grund dieser primären Antwortfähigkeit wahrgenommen wird.

Als WT ist es die Ebene der Antwortbereitschaft

Spezialist: Der Handlungsbereite, der "Macher".

3. Die tiefensymbolische Wahrnehmungsebene

Als tiefensymbolische Ebene der Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch Impuls und eigene Antwort als primäre Erfahrung erlebt, die im Gedächtnis festgehalten werden kann. Im sozio-parentalen Umfeld der (früh)kindlichen Entwicklung sind diese primären Erfahrungen (fast) immer eingebettet in den Kontext von Kommentierungen (welcher Art auch immer) der Eltern oder der jeweiligen Bezugspersonen. Als "prägende" Erfahrung wird dann diese komplexe Erfahrung als Gedächtnisspur festgehalten.

Über die assoziativen Felder des Gehirns werden später im Leben schon bei weniger Impulsen, als der Gesamterfahrung entsprechen, diese frühen Gedächtnisinhalte als Stimmungen, Empfindungen, Gefühle reaktiviert. Die tiefensymbolische (t-sy) Ebene der WvW wird zur t-sy Wahrnehmungstendenz, wenn die Wirklichkeit in der Analogie zu vor- und unterbewussten Primärerfahrungen und den damit zusammenhängenden Empfindungswerten erlebt wird. Diese Wahrnehmungstendenz ist Gegenstand der Tiefenpsychologie.

Als WT ist es die Ebene des analogiehaften Empfindens

Spezialist: Der Stimmungsvolle (Der "Selbsterfahrer")

4. Die ikonische Wahrnehmungsebene

Als ikonische Ebene der Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch neue Außenimpulszusammenhänge mit Gedächtnisinhalten so vergleicht, dass er (über assoziative Felder mehr oder weniger t-sy-mäßig "angefärbt") diese (zweifellos ganz neuen) Impulszusammenhänge als Ikon "wieder-er-kennen" kann.

Die ikon Ebene der WvW wird zur ikonischen WT dadurch, dass wir bewusst auf das Wiedererkennen, auf das Wiedererkennbare schauen, bzw. uns die Frage nach den Bedingungen des Wiedererkennens von Impulszusammenhängen stellen. Es geht dabei um die Abgrenzung interner Konstanten, um "Identitäten", um Ähnlichkeit. Dabei steht der Blick auf den Gegenstand im Zentrum, wie das Warten auf einen Gast am Bahnhof. Dazu gehört dann auch das blasierte "Kenn ich schon" dessen, der nicht mehr die ästhetischen Verführungen der Gegenwart wahrnimmt, sondern alles unter dem Gesichtspunkt des "déjà vu" erlebt.

Als WT ist es die Ebene des Kennens

Spezialist ist der Kenner der Materie (Der Gelangweilte)

5. Die individualsymbolische Wahrnehmungsebene

Als individualsymbolische Ebene der Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch diese (ikonischen) Gedächtnisinhalte zu einem internen Ordnungsschema von "Welt" zusammenfügt (sein inneres "Tableau"), und sich damit in der (ihm eigenen) Umwelt bis zu einem gewissen Grade orientieren kann.

Die i-sy Ebene der WvW wird zur i-sy Wahrnehmungstendenz, wenn wir bewusst uns unserer "Phantasie" hingeben, und Wirklichkeit konstruieren als "Meinung" über die Zusammenhänge von "Welt". Die i-sy WvW hat einen anarchistischen, einen revolutionären Zug, dann, wenn es gilt, neue Vorstellungen zu entwickeln.

Es ist die Ebene der Interpretation.

Der Phantasievolle (der "Sich Verwirklicher"), der Interpret (z.B. "Kunstkritiker"), der Utopist, auch: der Künstler.

6. Die sprachsymbolische Wahrnehmungsebene

Als sprachsymbolische Ebene der Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch das i-sy-Ordnungsschema mit anderen Menschen über Sprachformen ständig abgleicht. Über Sprache und indirekte Erfahrung angeeignete cut-outs und Tableaus stellen dabei Begriffe und Vorstellungen dar, die von der Gesellschaft und deren Normen und Wertvorstellungen her geprägt sind. dabei können unterschiedliche sprachsymbolische wie auch individualsymbolische Tableaus miteinander pluralistisch "konkurrieren" oder sich auch gegenseitig im Zusammenhang mit Machtstrukturen ausschließen (diktatorisch).

Zur s-sy Wahrnehmungstendenz wird die s-sy W-Ebene einmal im bewussten Erfassen der s-sy Anteile bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit und den entsprechenden Außenimpulsen, indem wir die medial vermittelte Deutung dieser Impulse miterfassen. Zum andern drückt sich die s-sy WT in einem kulturellen Konformismus aus, der sowohl passiv als Anpassung als auch aktiv im Durchsetzen von Denkmustern und Normen im Sinne des Machterhalts und der Festigung der bestehenden gesellschaftlich/kulturellen Strukturen in Erscheinung treten kann.

Ebene der Deutung

Der Gelehrte (Der Lehrer), Der "Gebildete", der Konservative, der Folgsame, auch der Regent, der Diktator.

7. Die indexalische Wahrnehmungsebene

Als indexalische Ebene der Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch jenseits von Individualsymbolik und Sprachsymbolik bei der Wahrnehmung von Impulszusammenhängen Zugang zu Erfahrungen hat, die ihn in die Lage versetzen, Tableaus an dem Kontext der Wirklichkeit zu überprüfen. Diese Erfahrungen sind in erster Linie seine auf direkter Erfahrung basierenden Kenntnisse des existentiellen Feldes in dem er sich befindet, und auf das hin sich alle aktuellen Signalmuster beziehen lassen. Die 'Gegenwart', die 'Situation', der 'situative Kontext' sind Begriffe, die diesen Tatbestand beschreiben. Über das Wissen um diese situativen Kontexte werden Informationen aus der Umwelt sofort um das Notwenige ergänzt und so verstanden. Zum andern ist indexalisches Wissen über überprüftes Quellenstudium verfügbar, überprüfbar insofern, als es auf Grund von mehreren voneinander unabhängigen Quellen in gleicher Weise sich darstellt, und sich dem allgemeinen Wissen um Sachverhalte und der Logik des "gesunden Menschenverstandes" nicht entzieht.

Die indexalische Ebene der Wahrnehmung wird zur index WT, wenn der Mensch bewusst Wissen um die situativ-causal-finalen Zusammenhänge zu der Impulsmenge die er tatsächlich erfährt, addiert und Sachverhalte so innerhalb eines Kontextes neu zuordnen kann. Die index WT hat immer die Realität im Blick, und versucht, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu unterscheiden.

Ebene des Wissens

Der Wissende (der Wissenschaftler), der Kritische (Unterscheidende), der "Realist"

8. Die abstrakte Wahrnehmungsebene

Als abstrakte Ebene der Wahrnehmung von Wirklichkeit bezeichne ich die Tatsache, dass der Mensch in ein Kontinuum von Außen- und Innenimpulsen, von Relationen und Ordnungen eingebunden ist, das zusammen mit den anderen Ebenen der Wahrnehmung (die ebenso kontinuierlich anwesend sind) das Feld existentieller Bewusstheit darstellt. Dieses Feld wird allerdings erst dann "bewusst", wenn innerhalb dieses Kontinuums "Auffälligkeiten", "Merkwürdigkeiten", "Besonderheiten" eine konkrete Gestalt annehmen. Erst als Figuren des Besonderen werden sie auf dem Grund des Selbstverständlichen erkennbar. Dies trifft solange zu, als die Wahrnehmung von Wirklichkeit sich auf die Identifizierung von Situationen und der damit möglichen Orientierung im Handeln bezieht.

Zur abstrakten WT wird die abstr. Ebene der Wahrnehmung in dem Moment, in dem der Mensch die Impulse der Außenwelt (und seiner Innenwelt) so versteht, dass er bei der Wahrnehmung das dieser Wahrnehmung zugrundeliegende Prinzip als Teil des existentiellen Kontinuums mit wahrnimmt. Im Denken erleben wir das als "Schau", möglicherweise als "Vision". Im meditativen Erleben kann das Abstrakte bewusst werden. Bei der Sprache hat die begriffliche Sprache des Wortes besonders als Metasprache die Möglichkeit Abstrakta "zur Sprache zu bringen", muss diese dann allerdings in ein zeitliches Schema von Aufeinanderfolge umformulieren. Damit wird die zeitliche Dimension der Wahrnehmung besonders betont. Die Bildsprache hat in den bildnerischen Variablen die Möglichkeit, Abstraktes in ikonisierter Form darzustellen. Hier wird über den zeitlich räumlichen "Moment" der Wahrnehmung die meditative Komponente der Wahrnehmung aktiviert. Das "Prinzipielle" wird allerdings zugunsten des "Besonderen" reduziert, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden.

Ebene des existentiellen Kontinuums

Der Weise (der Philosoph), der Mathematiker, der Logiker


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