Tilman Rothermel - Zeichenkritische Theorie

 

Die Zeichenkritische Theorie ist entstanden als ein Werkzeug zur Betrachtung und Analyse von Werken der bildenden Kunst. Im Laufe der Arbeit an dieser Theorie hat sich ergeben, dass die Elemente, die hier entwickelt werden insgesamt für Kommunikationsprozesse relevant sein können. Man kann mit den Begriffen, in die diese Theorie einführt, vielfältige kommunikative Zusammenhänge erforschen und verstehen.

Gleichzeitig stellt die Zeichenkritische Theorie für den Praktiker eine Möglichkeit dar, die eigene Produktion bildnerischer - aber auch allgemein sprachlicher Natur - auf ihre ablesbare Intention hin zu überprüfen. Die Zeichenkritische Theorie geht von folgenden Vorstellungen aus:

Die Zeichenkritische Theorie unterscheidet zwischen Realität und Wirklichkeit. Von einem materialistischen Weltbild ausgehend betrachtet sie alle Phänomene, die außerhab des menschlichen Bewußtseins existieren als Realität. Alles was sich dem menschlichen Bewußtsein erschließt und alle dann damit zusammenhängenden Implikationen wie Sprache, Handeln, Kultur etc. wird als Wirklichkeit und als entsprechende Wirklichkeitsebenen betrachtet. Daraus folgt, dass Realität zwar postuliert werden muss, aber alle Aussagen darüber von der Wirklichkeit überlagert sind.

1. Es gibt unterschiedliche Wirklichkeitsebenen deren Übersetzung in Sprachform Gegenstand des "O-Modells" ist. Dieses Denkmodell ist zentraler Gegenstand der Zeichenkritischen Theorie.

2. Der Künstler verfolgt bewusst oder unbewusst Ziele, die der Darstellung dieser Wirklichkeitsebenen zum Tragen verhelfen sollen.

3. Die Wirklichkeitsebenen können sich in einem Werk in ganz vielfältiger Weise miteinander mischen.

4. Die darstellbaren Wirklichkeitsebenen beziehen sich zum einen auf die erfassbare materielle Realität in ihren vielfältigsten Ausprägungen und Beziehungen, des weiteren dann auf die Repräsentation dieser Realität im Bewusstsein eines Menschen. Weiter beziehen sich diese Wirklichkeitsebenen auf die Möglichkeit, die interne Repräsentation der äußeren Realität als Sprache (in allen ihren Formen) darzustellen, und sie beziehen sich auf auf die mögliche Wirksamkeit dieser sprachlichen Formulierungen im Hinblick auf die Strukturierung bewusster und unbewusster Wahrnehmung von Wirklichkeit des Rezipienten.

5. Die den Rezipienten betreffenden Wirklichkeitsebenen sind noch zu differenzieren in mehrfacher Hinsicht: Eine Intention des Produzenten (Sender) kann dergestalt stattfinden, dass er lediglich eine wie auch immer geartete Wirkung auf den Betrachter intendiert; es kann aber auch der Versuch sein, das Handeln des Rezipienten in eine ganz bestimmte Richtung zu beeinflussen.
Für den Rezipienten heißt das dann, er kann den durch die Information erhaltenen Handlungsimpuls so erfahren, dass er diesen als alternatives Handlungsmuster erfährt (lernen), was dann zu einer letztlich darauf bezogenen alternativen Handlungsentscheidung führen kann. Diese rezipientenorientierten Intentionen des Senders können ebenso manipulativ wie emanzipatorisch eingesetzt werden.

6. Es hängt von der individuellen Eigenart des Produzenten ab, inwieweit er diese Wirklichkeitsebenen bewusst oder unbewusst einsetzt und beherrscht.

7. Jede dieser Wirklichkeitsebenen ist erneut in einem komplexen Mischungsverhältnis von Wahrnehmungs- bzw. Aussagetendenzen darstellbar: Der Produzent kann in allen Fällen den Akzent auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit der entsprechenden Phänomene legen, weiter kann er Handlungsfelder umgrenzen, er kann die unterbewussten Motivationen in Richtung auf die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen aktivieren, er kann den Bekanntheitsgrad der entsprechenden Phänomene zum Gegenstand machen, er kann eine individuelle Vorstellungswelt darauf aufbauen, er kann das kulturelle Umfeld und deren Codierungen ansprechen, er kann auf ein überprüfbares Wissen bezüglich dieser Wirklichkeitsebenen hinweisen und er kann das Allgemeine, Grundsätzliche, immer Vorhandene dieser Wirklichkeitsebenen zum Ausdruck bringen. Diese letzte Darstellungstendenz ist die abstrakte Darstellungstendenz.

Die ZKT widmet dem Thema des Abstrakten in der bildenden Kunst eine besondere Aufmerksamkeit. Die abstrakte Darstellungstendenz bestimmt in grundsätzlicher Weise jedes einzelne Bild, sei es gegenständlich oder ungegenständlich.